Die Natalität des Geistes

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Zugegeben, ich war nicht immer ein einfaches Kind, aber wie so viele Kinder auch stur sein konnten, war auch ich stur (wirklich sehr stur), wollte nicht zuhören und war überzeugt, dass meine Ansichten und meine Entscheidungen die einzig richtigen waren. Meine Eltern verzweifelten, wie so viele Eltern, teilweise bei mir und gaben es auf, mich zum Wandern zu überreden, weniger zu essen (ich aß unheimlich gerne), französisch zu lernen oder mir Mathematik beizubringen. Doch sie lebten ihre Überzeugungen konsequent und zeigten mir, dass es machbar war, auch wenn es in meiner Welt gerade nicht so war.

Mein Vater schleppte mich gerne zu den kuriosesten Veranstaltungen und Workshops, bei denen ich mit Abstand die Jüngste war. Die Leute dort fanden das toll, ich wusste nicht, was daran so toll sein sollte… immerhin hatte ich nichts getan, außer dort zu sein und das war eher meinem Vater zu verdanken als mir. Obwohl ich mit der Zeit weniger stur wurde und vermehrt auf meine Eltern hörte, verstand ich oft nicht, wieso und was sie mit mir unternahmen. Vor allem mein Vater schaffte es, mit mir die seltsamsten Vorstellungen zu besuchen und die nervenaufreibendsten Unternehmungen zu machen. Wir gingen in Ausstellungen (da verstand ich vielleicht nicht die Kunst, aber es war zumindest schön anzusehen), besuchten Schauspiel-Workshops in denen wir unsere letzte Minute unseres Lebens spielen sollten und nackte Männer im Wald Schlammbäder nahmen. Ich kletterte zum ersten Mal in meinem Leben… mit Schwierigkeitsgrad C und teilweise überhängender Felswand. Wir gingen zu Kunstperformances bei denen buddhistische Mönche schräge Klänge von sich gaben, während wie bei anderen Performances weder einen Laut, noch eine Bewegung von sich gaben. Ich war mit fünfzehn Jahren Zazen-Sitzen und paddelte eine Woche lang in Serbien auf der Donau, wobei ich mir eine Fäkalien-Verunreinigung holte. Mein Vater übte mit mir Bruchrechnen, wobei ich nie ganz verstand, was er eigentlich von mir wollte bis ich die Antworten irgendwann auswendig konnte.

Einfach war es bestimmt nie, oft sind Tränen geflossen und ich war davon überzeugt, das ärmste Kind mit dem strengsten Vater der Welt zu sein. Doch manchmal müssen wir zu unserem Glück gezwungen werden und ich bin meinem Vater sehr dankbar, dass er dies tat. Es war mit Sicherheit kein leichter Weg, weder für mich, noch für ihn, aber wir beide begingen ihn. Was ich während all den Unternehmungen noch nicht erkannte, war das Erwachsen und Wachsen meines Geistes, die Natalität des Geistes. Was zuvor bei Weitem nicht Teil meiner Welt war, hatte ich plötzlich erlebt. Wo ich dachte an meine Grenzen gekommen zu sein, übertrat ich diese. Ich lernte abstrakt zu denken und die offen zu sein Dinge zu erkennen, die ich im Moment noch nicht erkannte.

Jetzt studiere ich voller Freude Philosophie und ich bin meinem Vater sehr dankbar dafür, dass er mich über diesen steinigen Weg geschleppt hat, anstatt nur auf einem Stein sitzend zu denken.